Debattenbeitrag zu Windenergieanlagen in Marburg

Kommentar zur derzeitigen Debatte über Windenergieanlagen (WEA) in Marburg.

In der jüngsten Berichterstattung wurde geäußert

  1. wenn die Stadtwerke ihre WEA Projektierung einstellten, dann könne jeder andere Windräder aufstellen und
  2. das gemeindliche Einvernehmen nach §36 BauGB spiele eine Rolle

Dies wirft die Fragen auf, welches genau die derzeitige bauplanungsrechtliche Lage ist und ob die Stadt künftig die Nutzung der Windenergie im Stadtgebiet verbindlich steuern kann. Kann sie dort, wo dies aus städtebaulichen und sonstigen Gründen (z. B. Natur- und Umweltschutz, Schutz der Bevölkerung und der Landschaft) erforderlich ist, Windenergie grundsätzlich ausschließen?

Derzeit ist das einzige gültige Planwerk der Bauleit- und Regionalplanung, aus welchem sich die Zulässigkeit von WEA ergibt, weiterhin der Teilflächennutzungsplan (FNP) der Stadt Marburg vom 05.09.2002. Dieser legt als einziges Vorranggebiet (nach §35 III 3 BauGB) für WEA die Bestandsfläche in Wehrda fest. Solche Vorranggebiete (gleichbedeutend Konzentrationszonen) entfalten zwingend ausschließende Wirkung auf das restliche Gemeindegebiet. Auch der Regionalplan (nach dem Raumordungsgesetz und hessischem Landesplanungsgesetz) kann Vorranggebiete ausweisen. Diese Regelung verdrängt aber Festlegungen des Flächennutzungsplans nicht, sondern nach §35 III 3 BauGB ist eine WEA nur zulässig, wenn weder Flächennutzungsplan noch Regionalplan entgegenstehen. Derzeit gilt kein Regionalplan, da der alte Teilregionalplan Energie Mittelhessen von 2010 von der Stadt Alsfeld unwirksam geklagt wurde und der neue noch in Arbeit ist.

Dessen zweite Offenlegung steht wohl noch im Frühjahr 2015 bevor. Zuletzt am 18.12.2015 hat das RP-Gießen einen Zwischenstand veröffentlicht. Weiterhin werden ausdrücklich vier Vorranggebiete für WEA auf Marburger Stadtgebiet ausgewiesen (siehe Abb. 1) völlig unverändert Nr. 3128 Görzhäuser Hof und Nr. 3130 Lichter Küppel; minimal geändert Nr. 3129 Bürgeler Gleichen und Nr. 3135 Ronhausen). Hierzu kann im Rahmen der anstehenden weiteren Offenlegung noch einmal Stellung genommen werden. Ein baldiges Inkrafttreten des Regionalplans liegt nahe, ist aber keineswegs gewiss.

Ausschnitt aus Karte 14 des Entwurfs zum Teilregionalplan Energie Mittelhessen vom 17.10.2014
Ausschnitt aus Karte 14 des Entwurfs zum Teilregionalplan Energie Mittelhessen vom 17.10.2014


Abb. 1. Ausschnitt aus Karte 14 des Entwurfs zum Teilregionalplan Energie Mittelhessen vom 17.10.2014

WEA über 50 m Höhe müssen nach BImSchG beim RP-Gießen beantragt werden. Für Antragsverfahren von weniger als 20 WEA ist grundsätzlich das sogenannte vereinfachte Genehmigungsverfahren nach § 19 BImSchG vorgesehen. Für weniger als drei Anlagen ist dann nicht einmal eine Vorprüfung vorgesehen, die die Frage beantworten soll, ob durch die Errichtung der WEG wesentliche nachteilige Umweltbeeinträchtigungen vorliegen können und deswegen eine Umweltverträglichkeitsprüfung (mit Beteiligung der Öffentlichkeit!) erfolgen muss. Bei mehr als 3 Anlagen trifft die Entscheidung, auf diese Weise die Öffentlichkeit zu beteiligen, nicht etwas die Stadt, sondern die Genehmigungsbehörde, also das Regierungspräsidium.

Im Grunde ist der Verfahrenslauf ähnlich zu dem eines Bauantrages für ein Einfamilienhaus: Keine Beteiligung der Öffentlichkeit, keine Beteiligung der Nachbarschaft, Stellungnahme berührter Behörden, Rechtsanspruch des Bauherren auf Genehmigung, 3 Monate Dauer. Im Genehmigungsverfahren wird das sogenannte gemeindliche Einvernehmen (§ 36 BauGB) abgefragt. Spielraum der Gemeinde für eine Verweigerung ihres Einvernehmens besteht aber nur, wenn das Vorhaben eine Regel verletzt oder aber wenn ein gewichtiger öffentlicher Belang entdeckt wird, der bislang nicht berücksichtigt wurde und dem Vorhaben entgegensteht.

Derzeit könnten WEA nur auf dem Wege einer bezüglich Regionalplan vorzeitigen Genehmigung unter Erteilung einer Befreiung vom FNP genehmigt werden. Da laut FNP zusätzliche WEA im gesamten Stadtgebiet unzulässig sind, kann die Stadt derzeit jedem WEA-Vorhaben wirksam ihr Einvernehmen verweigern. Ist erst einmal der FNP eins zu eins an den Regionalplan angepasst, müsste sie für eine wirksame Verweigerung schon z.B. eine in den bisherigen naturschutzfachlichen Gutachten übersehene Kolonie bedrohter Fledermäuse entdecken. Eine solche eins zu eins Anpassung ohne weitere Beschränkung betreibt derzeit der Magistrat mit einer mehrfach zurückgestellten Vorlage für einen Aufstellungsbeschluss.

Andererseits ist die Stadt selbstverständlich nicht gehindert, die Nutzung der Windenergie durch eine Änderung der Flächennutzungsplans, der den Anforderungen der Rechtsprechung an eine der im Sinne der § 35 III BauGB „steuernde“ Planung entspricht (Darstellung von Vorrangflächen bei gleichzeitigen Ausschluss des übrigen Stadtgebietes), erneut zu planen. Um es einmal klar stellen: Dabei ist die Stadt derzeit nicht an die Vorgaben des Entwurfs des Regionalplanes gebunden, sondern muss – solange der Regionalplan noch nicht rechtsverbindlich ist, die dort vorgesehenen Gebietsausweisungen (Ziele der Regionalplanung) nur im Rahmen der Abwägung beachten. Eine Nicht-Darstellung der dort vorgesehen Flächen ist also durchaus (noch) möglich.

(Nur) mit einem Verfahren zur Aufstellung eines Flächennutzungsplans kann die Stadt zudem die Bürger an der Entscheidung beteiligen. Die Idee, „die Bürger an der Entscheidung zu beteiligen“ ist übrigens nicht neu, sondern dies wurde bereits am 30.09.2011 unter TOP Ö17 von der Stadtverordnetenversammlung beschlossen. Im einem späteren Genehmigungsverfahren findet aller Voraussicht nach eine Beteiligung der Bürger nicht statt:

Die Stadt hat also derzeit grundsätzlich noch die Möglichkeit, WEA dort, wo diese städtebaulich oder wegen anderer entgegenstehender öffentlicher Belange nach ihrer Auffassung nicht hingehören, zu verhindern und ihre jederzeit fortbestehende Planungshoheit auszuüben.

Die Stadt kann und sollte zudem bereits frühzeitig die Aufstellung jeweils eines Bebauungsplans für die in Frage kommenden Vorranggebiete in Betracht ziehen. Über die sogenannten Plansicherungsinstrumente Zurückstellung und Veränderungssperre kann dann abgesichert vom zeitlichen Druck beantragter Genehmigungsverfahren eine Feinsteuerung der Plangebiete erfolgen, in deren Ergebnis im Plangebiet auch WEA-inkompatiblen Festsetzungen erfolgen können.

Die Stadt kann so auch noch auf WEA-Genehmigungsanträge reagieren, auch wenn dies ihr schnelles Handeln erfordert. Über eine Veränderungssperre ist der Gemeinde vom Gesetzgeber ein Zeitraum von 2 Jahren einberaumt, um alle in Frage kommende Belange zu ermitteln und zu bewerten. Diese Frist ist sogar um ein Jahr verlängerbar – in Ausnahmefällen sogar um noch ein weiteres Jahr. So bleiben 3 (ausnahmsweise 4) Jahre Zeit, um den Bebauungsplan zu vollenden und in Kraft zu setzen. Das RP muss die Veränderungsperre beachten und darf über WEA-Anträge nicht entscheiden.

Das geschilderte Vorgehen, das Planungsrecht weitestgehend selbst in die Hand zu nehmen und dabei die Bevölkerung einzubeziehen, wurde bereits anderswo häufig so praktiziert und mehrfach höchstrichterlich für Recht befundenen (vgl. OVG NW 7 B 918/02 vom 23.07.2002; BVerwG 4 BN 13.07 vom 29.03.2007; VGH Kassel N2282/02 vom 05.02.2005). Freilich muss handwerklich sauber vorgegangen werden. In Alsfeld scheiterte eine die sofortige Genehmigung von WEA verhindernde Veränderungssperre, da sie eine baurechtsfremde Regelung enthielt, von einem inkonsistenten Planungswirrwarr überlagert war und obendrein der Gemeinderat den zugehörigen Aufstellungsbeschluss aufgehoben hatte – nicht aber an einer etwaigen prinzipiellen Nichtanwendbarkeit dieses Instrumentes (VGH Kassel 3 C 124/10 vom 29.08.2011). Steinau an der Straße scheiterte gegen einen WEA-Projektierer ebenfalls nicht deswegen, weil eine Veränderungssperre etwa generell unzulässig wäre, sondern weil dem zugehörigen Aufstellungsbeschluss ein Mindestmaß an Bestimmtheit fehlte. Im zugehörigen Urteil (4 CN 13.03 vom 19.02.2004) hat das BVerfG auch recht deutlich einen Leitfaden für „erfolgreiche“ Veränderungssperren gegeben. Schon im Aufstellungsbeschluss muss zumindest konkretisiert sein, welche Festlegung an welchem Ort vorgesehen ist, so dass ein Eigentümer erkennen kann, auf welche Art (Wald, Grünfläche etc.) er sein Grundstück wird nutzen können.

Untersagt ist reine Negativplanung. Dies ist ein formaler Begriff und bedeutet dass a) nur bestimmte Nutzungen ausgeschlossen werden aber keine Festlegung über zulässige Nutzungen getroffen wird oder b) eine Festlegung nur zum Schein getroffen wird, um in Wirklichkeit etwas anderes zu bezwecken. Inhaltlich kann gerade die Verhinderung unerwünschter Bebauung die Erfordernis eines Bebaungsplans begründen. Zulässige positive Festlegungen aus dem Katalog des § 9 I BauGB können z.B. auch „öffentliche Grünfläche“, „Wald“, „Flächen und Maßnahmen zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung von Boden, Natur und Landschaft“ sowie naturschutzrechltlich gebotene Ausgleichsfläche i. S. d. § 9 Ia BauGB) sein.

Zur Konkretisierung der Nutzung von Gebieten für die Windenergienutzung werden häufig Bebauungspläne aufgestellt, um die Festsetzung einer Höhenbegrenzung aufzunehmen, die konkreten Standorte der WEA zu steuern und weitestgehenden Schutz des Orts- und Landschaftsbildes, des Naherholungswertes und der Fremdenverkehrsfunktion zu gewährleisten.

Verfahrenstechnisch kann parallel die Aufstellung eines „steuernden“ (Teil-) Flächennutzungsplans mit der o. a. Rechtswirkung des § 35 III BauGB und eines Bebauungsplanes beschlossen werden. Dabei gilt: Auch die Aufstellung eines Flächennutzungsplanes für sich genommen kann geschützt werden. Beim RP kann gem. § 15 III BauGB die Zurückstellung des WEA-Genehmigungsantrages für einen Zeitraum von bis zu 2 Jahre beantragt werden. Eine Zurückstellung über § 15 III BauGB ist aber das wohl vergleichsweise angreifbarere Instrument der Planungssicherung.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Der geplanten regionalplanerischen Darstellung von 4 Konzentrationszonen kann die Stadt derzeit noch eine eigene steuernde Flächennutzungsplanung entgegen halten. Sie kann darüber hinaus die vorgesehen Gebiete im Rahmen einer verbindlichen Bauleitplanung (Bebauungsplan) überplanen und den Zeitraum für diese Feinsteuerung gegen Genehmigungsansprüche durch eine Veränderungssperre absichern

Wenn die Stadt ihr Planungsrecht aktuell nicht in die Hand nimmt, läuft sie Gefahr, gegen die Fülle von Genehmigungsanträgen in den Gebieten des Entwurfs der Änderung des Regionalplanes dort, wo diese Anträge unvereinbar mit den (Wohn-)interessen der Bevölkerung sind, kein Mittel in der Hand zu haben.

Eine etwaige Bürgerbefragung sollte m. E. daher thematisieren

  1. den „Auftrag“ an Magistrat und Stadtverordnetenversammlung zur Aufstellung eines eigenen Teilflächennutzungsplanes zur Steuerung der Windenergienutzung verbunden mit der Aufstellung von Bebauungsplänen und – spätestens bei Vorliegen von Genehmigungsanträgen – von Veränderungsperren für die Vorranggebiete des Regionalplanentwurfs

und

  1. die Zurückstellung der Projektierung der Stadtwerke (Lichter Küppel) bis zum Abschluss der Planung.

Dort, wo öffentliche Belange der Windenergienutzung nicht entgegenstehen, kann eine eigene Planung der Stadt WEA dann verhindern, wenn diese den Vorsorgegedanken umsetzt. Die Stadt muss keineswegs alle in Frage kommenden Bereiche ausweisen und kann im Rahmen einer restriktiven Planung WEA an vielen Standorten verhindern.

 

Dr. med. Andreas Matusch, Marburg

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.